Ost-West Wien 2022

Text: Wolfgang Schaffer

«Nach dem Osten muss der schlummernde Geist zu vollem Leben erweckt, nach dem Westen das geistlose Wirtschaften beseelt werden»1

Im Jahr 1922 fand in Wien der bis dahin größte öffentliche Kongress der Anthroposophischen Gesellschaft statt. Rund 2000 Menschen kamen in der Zeit um Pfingsten im goldenen Saal des Wiener Musikvereins zusammen, um Rudolf Steiner zu dem Thema «West – Östliche Weltgegensätzlichkeit – Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie» sprechen zu hören. Dazu gab es an zehn aufeinander folgenden Abendvorträgen reichlich Gelegenheit. Dieser Schwerpunkt wurde tagsüber durch Vorträge, Kurse und Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen aus der Natur- und Geisteswissenschaft unter der Leitung von namhaften Wissenschaftlern aus dem Umkreis der Anthroposophischen Gesellschaft ergänzt. Dazu kamen noch künstlerische Veranstaltungen und Eurythmie. Der inhaltliche Bogen, den Rudolf Steiner im Rahmen seiner Ausführungen spannte, reicht von Naturwissenschaft, Psychologie, Geschichte, Geographie und Kosmologie über Pädagogik bis hin zu dem Gebiet der Soziologie mit den Aspekten sozialer Mängel, sozialer Hoffnungen und den «Kernpunkten der sozialen Frage». Wenn man sich in die Zusammenhänge vertieft, die Rudolf Steiner vor seinen Zuhörern vor fast 100 Jahren ausgebreitet hat, kann man über den Inhalt seiner Aussagen im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen oft nur staunen. Der Weitblick lässt sich schwer mit herkömmlichen Mitteln erklären. Woher hatte Steiner zum Beispiel damals die Idee zu sagen: «Es muss wiederum eine Zeit kommen, wo jede Einzelheit des Lebens interessant wird. War sie früher interessant durch das, was sie als Objekt war, so wird sie für eine Zukunft interessant werden können, indem wir bei jedem einzelnen, was wir vollbringen, wissen können, wie es sich eingliedert in die soziale Ordnung der Menschheit. Wir werden, während wir früher auf das Produkt geschaut haben, jetzt auf den des Arbeitsprodukts bedürftigen Menschen schauen»2

Andererseits scheint es dem heutigen Leser fraglich, wer denn damals die unglaublich weit ausgespannten Gedankenverläufe wirklich verstehend mitvollziehen konnte. Auch innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft stellen die Vorträge zum sogenannten «West-Ost Kongress 1922» einen weitestgehend unentdeckten Schatz dar, den es noch zu heben und zu sichten gilt.

Es ging Rudolf Steiner jedenfalls schon kurz nach dem Ende des ersten Weltkrieges primär um die Verständigung zwischen Ost und West auf dem «zentralen geistigen Gebiete» als Voraussetzung für die Bildung eines echten gegenseitigen Vertrauens zwischen den beiden Weltmächten, die sich im Orient und Okzident bis heute polar gegenüberstehen. Die Kluft zwischen Westen und Osten ist tatsächlich durch den Verlauf der Geschichte immer tiefer geworden. Gegenwärtig gilt es bereits als höchst unseriös und geradezu verdächtig, das gegenseitige Misstrauen abzubauen. Ganz wesentlich für diese bis heute fehlende Verständigung zwischen Ost und West ist prinzipiell die Frage, wie sich der Mensch als einzelne, völlig auf sich gestellte, freie Individualität der gesamten Menschheit wieder eingliedern kann, ohne seine bis dahin entwickelte Persönlichkeit aufgeben zu müssen. Synchron zu diesem Geschehen gibt es in vielen Gesellschaften immer noch die Notwendigkeit, sich als Einzelner überhaupt erst aus der sicheren Gebundenheit familiärer Verwandtschaft und den darauf beruhenden Traditionen herauszulösen.

Diese mehrschichtige Transformation vollzieht sich gegenwärtig weltweit durch das Phänomen «Arbeit». Der einzelne Mensch stellt sich und seine Fähigkeiten den Bedürfnissen seiner Mitmenschen zu Verfügung und erhält als Gegenleistung die Möglichkeit, seine eigenen Bedürfnisse durch das ihm entsprechende Angebot aus dem gesellschaftlichen Umkreis zu befriedigen. Als Mittel zum Ausgleich dient die Zahlung mit Geld. Eine der Grundlagen für das geordnete Zusammenleben in unserer modernen Gesellschaft liegt in dem gelingenden Wechselspiel von Geben und Nehmen individueller Leistungen zwischen den einzelnen Menschen.

Damit werden zwei weitreichende Fragen erkennbar: Wie kommen wir zu einer der menschlichen Wesenheit und Würde entsprechenden Bildung von Fähigkeiten und wie begleiten wir die Entstehung von Neigungen, die in den Bereich des reinen Egoismus, des Antisozialen und letztlich Unmenschlichen führen. Beide Fragen weisen auf das von Einzelinteressen stark umkämpfte Gebiet von Erziehung und Bildung hin. Bei diesem Kampf zählt ein konkretes, wenn auch noch vorläufiges, positives Vorbild mehr als Theorien und Befürchtungen! Ein Ziel des geplanten Kongresses wird daher darin bestehen, die mittlerweile weltweit entwickelten Anthroposophischen Initiativen in Ihrer Gesamtheit sichtbar zu machen, sie soweit als möglich mit dem Umkreis wesensverwandter Bestrebungen zusammenzuführen und damit eine Perspektive menschlicher Entwicklung aufzuzeigen, die auf Freiheit gründet und zur Gesundung konkreter, gegenwärtiger gesellschaftlicher Missbildungen führt.

Bemerkenswert ist die unverkennbare Mittelpunktstellung des Vortrages zur Pädagogik im Ablauf der Tagung von 1922 in Wien. Die Ausbildung eines «lebendigen Denkens» wird als zentrales Leitmotiv mit dem Hinweis auf die unmittelbar zuvor in Stuttgart begründete erste Waldorfschule dargestellt. Diese Fähigkeit, das Denken zu beleben sollten Menschen durch ihre Schulzeit hindurch soweit entwickeln, dass sie damit den Anforderungen des Lebens gegenüber sicher bestehen können. Lebendiges Denken zeichnet den freien Menschen aus, der nicht bei jeder Entscheidung auf fest und unbeweglich gewordene Gedankenmuster zurückgreifen muss. Somit liegt ein wirksamer Freiheitsimpuls aller zukunftsorientierten Erziehung und Ausbildung zugrunde. Freiheit ist aber die Eigenheit des menschlichen Geistes. Dieser geistige Keim einer Erziehung zur Freiheit wurde durch Rudolf Steiner während der West-Ost Tagung 1922 ganz organisch zwischen die beiden Tagungsschwerpunkte Naturwissenschaft und Soziologie eingepflanzt.

Unter den vielen Impulsen, die von Rudolf Steiner ausgehend Wirklichkeit geworden sind, nimmt die Pädagogik eine besondere Stellung ein. Sie fasst Erziehung als Kunst und den werdenden Menschen als lebendiges Kunstwerk auf. Diese Art der Begegnung von Mensch zu Mensch setzt die Möglichkeit voraus, lernend aneinander und miteinander zu wachsen. Wenn sich im Rahmen der Waldorfpädagogik Erwachsene und Kinder im umfassenden Sinn «die Hände reichen», bleibt Nichts einfach beim Alten. Die ersten Früchte dieses epochalen Versuches, das menschliche Denken ganz neu zu beleben, sollten sich durch den Ost-West Kongress in Wien 2022 «kosten» lassen.


1) Aus dem Text der Einladung zum Kongress 1922 siehe: Rudolf Steiner GA 83, S. 342, Dornach 1981

2) Rudolf Steiner GA 83, S. 248, Dornach 1981