Der Anthroposophische Kongress von 1922: Das geistige Umfeld in Wien im Rückblick

Text: Walter Pfluger

Wenn wir uns geistig einlassen wollen auf den kommenden Kongress Ost-West Wien 2022, dann gibt es keinen besseren Ausgangspunkt, keine bessere Grundlage, als die Vorträge, die Rudolf Steiner auf dem WIENER KONGRESS DER ANTHROPOSOPHISCHEN BEWEGUNG vom Jahre 1922 gehalten hat.[1] Sie sind für uns also der erste Bezugspunkt.

In dem BERICHT RUDOLF STEINERS IN DORNACH AM 18. JUNI an die Freunde des Goetheanums verweist Steiner auf das Wesen von Wien, das dem Kongress von 1922 eine besondere Aufgabe zugeteilt habe, und auf diese Weise wohl auch das Thema bestimmt hat, das der „Westlichen und östlichen Weltgegensätzlichkeit“ gewidmet ist und sich der Frage widmet, wie „Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie“ gefunden und aufgezeigt werden können.

Es ist also hier ganz dezidiert kein Thema, das sich um Ost-West Europa dreht, sondern um „Verständigung, (die) über die ganze Kulturwelt kommen muss“.

Dieser globale Anspruch wird auch noch einmal deutlich, wenn wir uns die Kapitel vor Augen führen, welche die einzelnen Themenbereiche der insgesamt 10 Vorträge von Steiner untergliedern.

Da nennt Steiner den dritten Vortrag „Anthroposophie und Weltorientierung“ und fragt nach „Ost-West in der Geschichte“. Im siebten Vortrag, welcher der Soziologie gewidmet ist, spricht Steiner über „Die Zeit und ihre soziale Gestaltung“ mit einem besonderen Augenmerk auf die „Atlantische und Pazifische Kultur“. Diesem folgt der achte Vortrag der „Die Zeit und ihre sozialen Mängel“ aus der Sicht von Steiner aufzeigt und den Fokus auf den geographischen Raum „Asien-Europa“ legt. Der neunte Vortrag wiederum widmet sich der westlichen Kultur und zeigt „Die Zeit und ihre sozialen Hoffnungen“ als das große Thema und die große Aufgabe, sozusagen den aktuellen Auftrag, für „Europa-Amerika“. Bevor dann der zehnte Vortrag „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ zusammenfasst, eines der großen Themen, die Steiner in dieser Zeit nach dem 1. Weltkrieg besonders bewegt haben.

Wir wollen uns also auf diesen Rahmen, der durch die Vorträge Steiner und ihre Struktur vorgegeben ist, einlassen. Dies scheint uns gewinnbringend und Erkenntnis fördernd, weil wir davon ausgehen dürfen, ja müssen, dass Steiner die Inhalte und die Struktur der Vorträge mit Vorsatz gewählt hat. In diesem Sinne wollen wir uns also fragen, was Steiner gesagt hat, und was er als Botschaft den Menschen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geben wollte. Dies führt dann dazu, uns zu fragen, was er uns sagen wollte, als den Menschen in der „Anthroposophischen Bewegung“ in dieser Zeit des beginnenden dritten Jahrtausends der Zeitrechnung. Dieser direkte Bezug auf die Vorträge von Rudolf Steiner ist uns also wichtig, wobei wir zudem im Auge behalten wollen, dass unser eigenes Verständnis natürlich auch immer zeitgeprägt ist. Dies hat direkt mit dem Entwicklungsgedanken zu tun, der für die Anthroposophie ja insgesamt von zentraler Bedeutung ist. Wie wir von Steiner wissen, findet Entwicklung nicht nur in der drei-dimensionalen physischen Welt, sondern auch in der geistigen Welt statt.

Dazu kommt aber noch ein weiterer Aspekt, den wir hier auch so gut wie möglich ins Auge fassen sollten. Es geht um das besondere Umfeld, das Wien seit dem Beginn der michaelischen Zeit, also seit 1879 bis zum Jahr des Kongresses, also 1922, dargestellt hat. Auf dieses geistige Umfeld zur Zeit des anthroposophischen Kongresses von 1922 wollen wir einen Blick werfen, wollen wir im Rückblick schauen. Wir tun dies deshalb, weil die Art, wie Steiner das Thema für den Kongress angesetzt hat und wie er dann die Vorträge inhaltlich ausgeführt hat, nach unserem Verständnis sehr viel mit diesem geistigen Umfeld im Wien von 1922 zu tun hat. Nach unserem Verständnis sind es in erster Linie drei besondere Ereignisse und Eigenheiten, die uns zum Verständnis des Umfeldes zentral erscheinen, und die sozusagen den Rahmen abstecken in dem wir das Wien des Jahres 1922 sehen müssen.

Im Zentrum steht sicher, als erstes wichtiges Element zum Verständnis dieser Zeit in Wien, der 1. Weltkrieg von 1914-18, der ja durch Ereignisse im Reich der Habsburger Monarchie seinen Ausgang genommen hat. Dieser Krieg war die „Urkatastrophe“ Europas, und sein Ausgang ein wichtiges Zeichen für die dramatischen Ereignisse, die schon allzu bald nachfolgen sollten.

Hinzu kommt hier im Jahre 1918 die faktische Auflösung der Habsburger Monarchie, und, wir sollten dies nicht unterschlagen, auch des preußisch-deutschen Kaiserreiches. Zu diesem wichtigen Thema hat sich Steiner selbst in einer ganzen Reihe von Vorträgen immer wieder geäußert, auch schon während des 1. Weltkrieges. Ganz wichtig in der Biographie Steiners ist hier auch sein mutiger Versuch, nach dem Ende des Krieges direkt auf den Verlauf der Geschehnisse einzuwirken. Nicht ohne Grund hat Steiner auch immer wieder auf die esoterischen Hintergründe der Ereignisse hingewiesen, die sich in der symptomatologischen Lektüre und Analyse der geschichtlichen Ereignisse als eine Einkreisung „der mittleren Völker Europas“ gezeigt hat, betrieben durch die Westmächte, auch mit Hilfe der Manipulation Russlands, insbesondere durch Frankreich.

Durch den Ausgang des 1. Weltkrieges und den anschießenden Vertrag von Versailles ist den deutschsprachigen Staaten und Völkern die politische Grundlage entzogen, auf der sie, aus der Sicht von Steiner, ihre Mittlerrolle in Europa hätten spielen sollen.[2] Die Unvernunft hatte gesiegt und dem „sozialen Chaos“ -ein Ausdruck, mit dem Steiner wiederholt die Situation charakterisiert- den Weg gebahnt.

Als zweites Thema und zentrales Element, das zum Verständnis des Umfeldes in Betracht gezogen werden muss, wollen wir hier die Zusammensetzung und das Zusammenspiel der europäischen Völker anführen, die Steiner grob gesehen aufteilt in den Westen, mit den angelsächsischen Ländern, dann den insbesondere durch die slawischen Kulturen in Russland und Polen geprägten Osten und schließlich mit den deutschsprachigen Ländern in der Mitte, die eine Rolle der Vermittlung zwischen dem Osten und dem Westen der europäischen Kulturen übernehmen sollten. Zu diesem Thema gibt es inzwischen eine recht gute historische Forschung, von der wir hier nur die Arbeiten von Andreas Bracher anführen wollen, weil sich dort auch die Quellen zu weiteren Fragestellungen innerhalb dieses Bereiches finden.

Entscheidend scheint uns hier, auf die anscheinend polemische Position zu verweisen, die Rudolf Steiner zum „Wilsonismus“ eingenommen hat, weil diese Politik, die damals eingeleitet wurde, unsere globale politische Situation bis heute ganz stark prägt. Diese Auseinandersetzung kann man nur verstehen, wenn man sieht, dass Steiner diese Doktrin von Wilson und das Streben nach der Schaffung eines „Völkerbundes“, dem Vorläufer der heutigen Vereinten Nationen (UN), als Symptome ansieht, bei denen es darum geht, die dahinterstehenden Interessen und Absichten genauer zu verstehen. In diesem Sinne steht der Wilsonismus für Steiner für eine kalte Politik des Nationalismus, der den Völkern und ihren Kulturen kein Recht auf Selbstbestimmung mehr lässt. Diese implizite Absicht des Wilsonismus schließt ebenfalls mit ein, dass insbesondere die Völker Mittel- und Ost-Europas ihr Selbstbestimmungsrecht verlieren und den strategischen Absichten des angelsächsischen Imperialismus und Kapitalismus geopfert werden. Ganz wichtig ist zudem, dass eine der global entscheidenden Folgen des 1. Weltkrieges, der Eintritt der USA als wesentlicher Mit-Gestalter der europäischen Politik, Wirtschaft und auch des kulturellen Lebens, hervorzuheben ist. Steiner hatte dagegen ein Staatenbund vorgeschwebt, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker respektieren würde, und auch auf die Eigenheiten der Völker Rücksicht nehmen und so die Entfaltung der Kulturen ermöglichen würde.

Als drittes zentrales Element wollen wir die Rolle anführen, welche die Wissenschaft und ihre Entwicklung in dieser Zeit in Wien gespielt hat, mit ihren wichtigen und vielleicht richtungsweisenden Auswirkungen auf die gesamte moderne Wissenschaftsgeschichte. Nach den ersten beiden genannten, eher exoterisch, politisch-gesellschaftlich zu verstehenden Elementen, die das Umfeld des Kongresses West-Ost 1922 geprägt haben, kommt also noch weiteres zentrales Element hinzu, dem ebenfalls große Bedeutung für den Charakter des Kongresses sowie die Struktur und den Inhalt der Vorträge zukommt. Wir wollen hier verweisen auf das besondere geistige Umfeld, das Wien seit dem Beginn der michaelischen Zeit, also seit 1879 bis zum Jahr des Kongresses im Jahre 1922, geprägt hat. Im Rahmen dieses Aufsatzes wollen wir dazu nur erste Hinweise vermitteln. Das Thema soll dann zu einem späteren Zeitpunkt noch weiter vertieft werden.

Wien war zu dieser Zeit, das heißt in den letzten 40 Jahren der Habsburger Monarchie, geprägt von einem äußerst produktiven und kreativen wissenschaftlichen und kulturellen Leben.[3] Aus der Sicht der Wissenschaftsgeschichte ist es nicht zu viel gesagt, wenn man in Wien die geistige Quelle für die gesamte moderne Wissenschaft des 20. Jahrhunderts sieht. Dessen war sich Steiner sicher bewusst, denn wir wissen, dass ihm, bezogen auf das Geistesleben in Europa, keine wichtige Strömung und Bewegung verborgen geblieben ist. Wenn Steiner sich diese geistige Situation in Wien nicht zum Thema des Kongresses gewählt hat, so dürfen wir nicht vergessen, dass es Steiner ja nicht um Wissenschaftskritik ging, sondern um die Gründung einer neuen Wissenschaft, die Begründung eines neuen Denkens und einer neuen Weltanschauung[4], der neuen Geisteswissenschaft oder Anthroposophie.

Ganz wichtig ist hier aber der Hinweis, dass es sich bei dieser modernen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, die ihren Geistesgrund im damaligen Wien gefunden hatte, um genau die Geisteshaltung und Weltanschauung handelte, welche die materialistische und mechanistische Wissenschaft unserer Zeit bis heute geprägt hat. So hat sich selbst Einstein, der ja selber nie in Wien gewirkt hat, noch auf Ernst Mach berufen, der ein Mit-Begründer und eine wichtige Figur für den „Wiener Kreis“ war. Die von Freud begründete Psychoanalyse sollten wir hier ebenso wenig unterschlagen, wie den von Karl Popper proklamierten Positivismus der Wissenschaften und der Philosophie. Es wird auch kein Zufall sein, dass Ludwig Wittgenstein just im Jahre 1922 seinen Tractatus logico-philosophicus verfasste, und dieses geistige Denkmal der positivistischen Wissenschaft im Jahre 1923 erstmals veröffentlichte, übrigens auf englisch.

Besonders bemerkenswert ist hier für unseren Zusammenhang, dass die Begründer und Verfechter des wissenschaftlichen und philosophischen Positivismus schon sehr früh die Grenzen ihres Denkens und ihrer Weltanschauung erkannt haben. Jedoch haben sie den Weg aus der Falle, in die sie geraten waren, nicht gefunden. Selbst wenn sie Steiner auf dem Kongress von 1922 gehört hätten, es wäre kein einfacher Schritt gewesen, an dem Hüter der Schwelle vorbeizuschreiten, um das bisherige wissenschaftliche Wissen als einen zwar wichtigen, aber nur exoterischen Teil dessen anzuerkennen, was Geisteswissenschaft als dem Menschen zugängliches Wissen versteht.

Wittgenstein hat nach seinem „Tractatus“ erst einmal eine Auszeit genommen und als einfacher Dorfschullehrer und Gärtner gearbeitet, bevor er einem Ruf nach Cambridge folgte, um seine Sprachphilosophie zu entwickeln und „der Fliege den Weg aus der Fliegenfalle“ zu zeigen.

Im „Wiener Kreis“, dessen Konstitution sich seit 1921 anbahnte[5], versammelte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen aus den Bereichen der Philosophie, der Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, der Mathematik und Logik auf der Grundlage einer Weltanschauung und Denkweise, die als Logischer Empirismus galt. Dort wurden auch Seminare zu Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus und zur Principia Mathematica von Whitehead und Russell veranstaltet. Als dann 1926 Rudolf Carnap als Privatdozent nach Wien geholt wurde, diskutierte man dort intensiv dessen Schrift Der Logische Aufbau der Welt.

Im September 1922, gerade 66 Jahre alt geworden, hält Freud seinen letzten öffentlichen Vortrag in Berlin, weil bei ihm eine Krebserkrankung am Kiefer diagnostiziert wurde.

Ein andere wichtige Persönlichkeit aus dem Wien dieser Zeit ist Wilhelm Ostwald, der hier stellvertretend für die Wissenschaftler genannt werden soll, die schon früh die Grenzen ihres Weltbildes sahen, denen es aber noch nicht möglich war, diese Grenzen auch zu überschreiten. Wilhelm Ostwald war Chemiker und arbeitete auf dem Gebiet der Katalyse, 1909 erhielt er für seine Forschungen den Nobelpreis. Er versuchte schon früh das Feld der „Energetik“ populär zu machen. Noch wichtiger aber sind die Arbeiten eines seiner Schülers, Alwin Mittasch, der in aller Stille, neben seiner hervorragenden Position bei der BASF, seine eigenen Forschungen zur Katalyse betrieb. Mittasch zeigt sehr deutlich, „dass im Reiche des Lebendigen eine Gesetzmäßigkeit waltet, die chemisch und physikalisch nicht erschöpfend beschrieben werden kann. Es existiert eine „Obergesetzlichkeit“ des Lebens, die der Schicht chemisch-physikalischer Prozesse übergelagert ist.“ Weiter heißt es in dem Text: „Bilden somit Wörter wie „Lebenskraft“ und „Entelechie“ zulässige Grenzbegriffe der biologischen Wissenschaft, so ist  Naturphilosophie versucht, nach Ursprung und Sinn solcher höheren Gesetzlichkeit des Lebens zu fragen; und man wird kaum anders können, als (…) u. a. seelenartige Ziel- und Richtkräfte anzunehmen“.

Diesem Thema werden wir uns mit unserem nächsten Aufsatz in einer vertieften Analyse widmen.

[1]                Herausgegeben in der GA 83. Dort findet sich auch ein BERICHT RUDOLF STEINERS IN DORNACH AM 18. JUNI an die Freunde des Goetheanum. Zudem ist die Ausgabe mit einer kurzen Reflexion von Frau Marie Steiner-von Sievers ergänzt, die 25 Jahre später, also nach dem Ende des 2. Weltkrieges und noch vor Gründung der BRD und der DDR, verfasst worden ist.

[2]            Wie Frau Steiner-von Sivers ihren Mann Rudolf Steiner in der Note zur Ausgabe der GA 83 aus der Erinnerung zitiert, und in eigener Reflexion anführt, ist der Zugang zu einer Position, in der die deutschsprachigen Völker diese Mittlerrolle einnehmen könnten, durch das Drama des Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg dann endgültig versperrt.

[3]            In seiner Autobiographie beschreibt Stefan Zweig diese Zeit sehr eindringlich als eine Periode in der Geschichte, die geprägt war von einer Freiheit des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens, das eine Frucht der Habsburger Monarchie gewesen ist und ein geistiges Klima ermöglichte, das den Grund für ein freies Europa hatte legen können.

[4]            Dieser Begriff ist zentral in den Vorträgen von Steiner, die ja für eine breite Öffentlichkeit bestimmt waren. Er bezieht ihn explizit auch auf die Anthroposophie.

[5]            Schon vor dem 1. Weltkrieg hatte sich ein informeller, erster „Wiener Kreis“ konstituiert, der aber mit dem Krieg seine Aktivitäten einstellte.